Freiheit
Sanft streicht eine Hand über meinen Kopf. Ich erschrecke, denn ich bin es nicht gewohnt, dass ich gestreichelt werde. Ich vernehme Stimmen, die mir nicht vertraut sind - aber sie sind voller Wärme und beruhigen doch mein aufgewühltes Herz. Die Kette um meinen Hals ist straff und schmerzt in meinem Nacken, während ich versuche den Menschen anzuschauen, der wohl nichts Böses im Schilde zu führen scheint...
Plötzlich
spüre ich, wie die Kette sich löst und ich aus meinem kleinen dunklen Stall
geführt werde. Draussen ist es hell, ich kann kaum etwas erkennen. Mit sanftem
Druck werde ich in ein Gefährt verladen. Mir schwant Schlimmes und ich bebe
innerlich. «Ist das nun der Tag, an dem sie dich holen?» frage ich mich panisch,
«werde ich jetzt abgeführt, an jenen Ort, wo ich elendiglich sterben muss? Alle meine
Brüder und Schwestern kamen nie mehr zurück!».
Die Strasse ist holperig und ich schaue aus dem kleinen Schlitz in der Wand. Ich
sehe Wiesen, Bäume, Blumen und die Sonne scheint auf meine Nase, die ich gierig
schnuppernd aus der kleinen Öffnung des Wagens halte. «Wo bin ich?» denke ich
ängstlich.
Mit einem
kleinen Ruck hält das Gefährt an und die Lade wird geöffnet. Vor mir sehe ich
zwei Menschen - sie lächeln und streichen über meinen Rücken. Sichtlich
irritiert lasse ich mich von ihnen die Rampe runterführen.
Zum ersten Mal spüre ich Gras unter meinen Füssen und sehe in der Ferne, dass
auf der riesigen Weide etwas steht: «Das sind Brüder und Schwestern - meine Freunde!»
jubelt es in meinem Innern.
Zaghaft mache ich einen Schritt nach dem anderen.
Die Luft
ist so rein und klar, der Himmel ist so blau und ich beginne zu gehen, zu
laufen, zu rennen; immer schneller werden meine Schritte.
Ich kann mein Glück nicht fassen! Ausser Atem bleibe ich stehen und schaue mich
um.
«Ich bin frei?», fragt mein verängstigtes Herz ungläubig. Ich dreh mich im
Kreis, springe im Zick Zack über die Wiese und rieche den unwiderstehlichen
Duft der Gräser.
Es ist ein
Tanz! Mein Tanz der Freiheit, der Erlösung, der Glückseligkeit! Wie im Rausch
werden meine Sprünge immer grösser, immer leichter und übermütiger. Ich
umkreise die anderen mit der Freude, die nur ein zu Unrecht Verurteilter
empfinden kann, wenn er endlich in die Freiheit entlassen wird.
«Tanzt mit mir!» rufe ich meinen neuen Freunden zu. «Lasst uns rennen, lasst
uns feiern diesen Lebensrausch!» Und wir rennen zu dritt, zu viert, ich weiss
nicht mehr wie viele wir sind - es kommt mir vor als wären wir Tausende!
Dann bleibe ich stehen -, mein Herz klopft wie wild. Wie kann das sein? Gestern war alles noch so düster, mein Leben war kein Leben. Eine tiefe Trauer überfällt mich, weil ich an meine Leidensgenossen denke, die immer noch in ihren Gefängnissen angebunden sind. Melancholie und Schmerz ergreift mein ganzes Wesen bei dem Gedanken, dass ich nie meine Kinder hab liebkosen dürfen. Im Geiste höre ich sie rufen; ihre Schreie zerreissen mich...
Kraftvoll stampfe ich mit meinem Huf auf und renne erneut los -. Diesmal mit wütender Energie in meiner Brust darüber, was mir widerfahren ist. Entsetzt über die
Qualen, welche ich und all die anderen erleiden mussten, bleibe ich abrupt
stehen: «Aber ich lebe?!».
Verwirrt und gleichzeitig voller Stolz galoppiere ich mit erhobenem Haupt zu
meinen neuen Freunden: «Hier bin ich! Wir sind die Glücklichen!»
Der Freudentaumel
erfasst mich erneut und ich springe und drehe mich im Kreis wie ein kleines
Kind. Nie mehr soll dieses Gefühl enden! Ganz schwindelig und schnaubend lege ich mich erschöpft hin, während die beiden Menschen lachend auf mich zukommen.
Sie streichen zärtlich über mein Fell -; überrascht und dankbar lehne ich meinen
Kopf gegen den Körper des Menschen. Fortan werde ich keine Nummer mehr sein;
ich habe jetzt einen Namen.
Ich heisse Sofia - mein Name ist Sofia!
Noch nie habe ich eine solche Liebe erfahren dürfen. Und während ich meine Augen schliesse, flüstert meine Seele: «Es ist vorbei, du bist in Sicherheit.»
Text by: Bea Kälin