Beide sind Opfer

12.11.2021
Bild/Artist: Jo Frederiks
Bild/Artist: Jo Frederiks


So brutal und grausam dieses Bild auch ist, so ergreifend und erschütternd wirkt es auf mich...

Ein kleines Kind versucht mit Hingabe einem notleidenden Wesen zu helfen. Der Knabe sieht nicht ein Objekt, sondern offensichtlich jemanden, dessen Gesicht eindeutige Signale eines desolaten Zustandes aussendet.
Das Kind ist so vertieft im helfen wollen, dass es nicht wahrnimmt, dass das geschundene Tier leblos und ohne Körper daliegt. Traurig hält der Junge dem Tierchen die Wasserschale hin in der Hoffnung, es möge doch bitte trinken.
In dieser zärtlichen Geste steckt keine Ratio und auch keine Furcht oder Ekel - einzig und allein die Liebe, Empathie und das Erkennen einer Notlage verleitet das Kind dazu, jetzt und unverzüglich Beistand zu leisten.

Die Malerin, Jo Frederiks, nannte ihr aussagekräftiges Bild: «Both Are Victims» (Beide sind Opfer).
In der Tat ist nicht nur das Tier ein Opfer, sondern auch das Kind, denn in seiner Reinheit ist es sich nicht bewusst, dass das, was da liegt das Resultat einer brachialen Erwachsenenwelt ist, in der Tiere nicht als fühlende Wesen anerkannt werden, sondern nur als Produkte zur Befriedigung des sogenannten «Genusses».

Nehmen wir einmal an, die Eltern des Kindes würden in diese Szene treten -, wie würden sie auf diese Situation reagieren? Ich gehe jetzt davon aus, dass sie den Jungen, in seinem Vorhaben dem Tier helfen zu wollen, unterbrechen würden, ihn wegzerrten und unmissverständlich erklärten, dass das, was er da treibt völlig sinnlos sei. Das Tier sei tot - und da helfe auch kein Wasser mehr!
Vielleicht würde das Kind unter Tränen versuchen Antworten auf seine ungläubigen Fragen zu erhalten, um dann feststellen zu müssen, dass man diese lachend oder gar ärgerlich abweist. Verwirrt und voller Selbstzweifel sich selbst überlassen, wird der Knabe künftig seinen Gefühlen keinen freien Lauf mehr lassen, weil diese Häme oder gar Wut bei seinem Gegenüber auslöst.

Ganz anders könnte sich die Gegebenheit jedoch gestalten, kämen die Eltern und nähmen wohlwollend Anteil an der Fürsorge des Kindes und es könnte sich verstanden und ermutigt fühlen in seinem Tun. Damit würde dem Jungen vermittelt, dass seine Empfindungen absolut richtig seien und die Tränen der Trauer unbedingt fliessen dürfen, bei der Erklärung, dass dem armen Tierchen leider nicht mehr geholfen werden kann, weil der Mensch es für seine Zwecke kaputt gemacht hat. Natürlich könnte das Kind noch nicht alles erfassen, aber eines würde es mit Sicherheit verstehen: Es ist nie falsch, Mitgefühl und Liebe zu empfinden!

Wir alle waren einst dieses Kind, bis wir Opfer eines brutalen und erbarmungslosen Systems wurden, in dem es keine fürsorgliche Liebe gibt für Mitlebewesen, derer wir uns bemächtigen im Wahn, wir hätten das Recht, Leben zu missbrauchen und zu töten für unseren krankhaft gewordenen Egoismus.

Die Tränen der Kindheit, die uns einst über die Wangen liefen, angesichts eines leidenden «Nutztieres», wurden bis heute nicht liebevoll getrocknet...


Text by: Bea Kälin